Mein Kindheitstraum erfüllt sich

Mein Traum zur See zu fahren rührte sich wieder stärker. Aber von 12 Reedereien bekam ich 10 Absagen, weil sie keine Passagiere beförderten und für die Mannschaft keinen Konditor brauchten. Aber ein Brief aus Bremen machte mir Hoffnung. Er kam vom Absender D.D.G. Hansa. Schlachte 6
Diese Reederei wollte mich unter folgenden Bedingungen einstellen: 1. Wegen meines Alters sollte ich eine Einwilligung der Eltern erbringen. 2. Ich müsste vier Wochen lang in einem von der Reederei bewirtschaftetem Hotel einen Lehrgang machen. Danach könnte ich als Kochjunge anfangen. Hätte ich doch Bäcker oder Metzger gelernt – es wäre so viel einfacher gewesen.
Ich hätte sofort als Kochsmaat, also als zweiter Koch, anfangen können. Aber ich grübelte nicht lange, sondern ging auf das Angebot als Kochjunge ein! So würde ich also als Moses anfangen – das sind die Jungen, die keinen Beruf haben und erst an Bord eine Lehre anfingen. Auch die konnten es bis zum Kapitän schaffen – natürlich mit Schule in den Häfen, Fahrten auf See und wieder Schule. Das alles ein paar Jahre lang. So lief das.
Doch ich hatte ja einen Beruf – und musste trotzdem als Moses anfangen. Ich war Konditor und kein Koch – also musste ich noch einmal lernen. Mein Ziel war immer noch Schiffskoch. Es war ein harter Kampf mit Mutter. Vater war weniger besorgt doch Mutter meinte, dass Wasser keine Balken hätte.
Und überhaupt – was da auf dem Wasser alles passieren kann. Sie wisse das vom Krieg her – da sind so viele ertrunken, als das mit der „Gustloff“ passierte. Ihr Vater war als Maschinist auf der „Wilhelm Gustloff“. Mit noch ungefähr 9000 Menschen, die an Bord waren, ertrank er. Jetzt war mir klar, warum sie mich nicht zur See fahren lassen wollte. Nie hatte sie etwas von ihrem Vater erzählt. Irgendwann, irgendwo hatte ich einen Bericht über diese Tragödie gelesen.
Man weiß nicht genau, wie viel Seelen an Bord waren, als die russischen Torpedos das Schiff zum Sinken brachten. Es war in der Ostsee vor der polnischen Küste.
Bis heute möchte man diese ganze Sache um die „Gustloff“ am liebsten nicht erwähnen. 50 Was sind schon ein paar Tausend deutsche Flüchtlinge und eine Schiffsbesatzung, das waren sowieso alles Nazis. Da macht es doch viel mehr her, wenn man von einer „Titanic“ sprechen kann. Das waren „arme Millionäre“, die tragisch ums Leben kamen. In den Seekarten war der Untergangsort der „Gustloff“ als Hindernis 73 bekannt, doch wen stört das heute noch? Es waren doch nur 9000 Flüchtlinge aus dem Osten, die ihr Leben ließen. Bestimmt waren sie sogar die Erbauer der KZ‘s. So war das damals im Krieg.

Aber jetzt war kein Krieg mehr, zumindest nicht in unserer näheren geografischen Umgebung. Krieg gab und gibt es immer und zu jeder Zeit auf dem Globus, nur hört man manchmal nichts davon. Ich wehrte mich gegen diese Art von Gesprächen und verteidigte die neue Welt der Seefahrt. Sterben konnte ich überall, dafür musste ich nicht aus dem Haus gehen. Es sterben viele Menschen sogar in ihrem Bett.
Ich hatte einmal eine Statistik gesehen, in der die gefährlichsten Tiere der Welt und die tödlichsten Angriffe weltweit pro Jahr aufgelistet waren. So erklärte ich Mutter, dass eine Million Menschen an Malaria, übertragen durch die Stechmücke sterben. Weitere vierzigtausend sterben durch Schlangenbisse, tausend durch Krokodile und weltweit knapp zweihundert durch Lawinen. Zweihundert werden von Nilpferden getötet, fünfzig durch Tiger – alles an Land lebende Tiere. Aber nur etwa fünfzehn oder zwanzig sterben durch Bisse von Haifischen – im Wasser lebende Tiere. Also schon deshalb war das Leben auf dem Wasser viel sicherer. Jetzt musste sogar Mutter etwas schmunzeln und meinte, dass ich mich sehr gut vorbereitet hätte. Um Nachdruck zu erzeugen, setzte ich noch einen darauf und erinnerte sie daran, dass ich bald einundzwanzig werden würde und dann ohne ihre Zustimmung machen könnte, was ich wollte.
Worauf Mutter meinte, ich würde doch jetzt schon machen was ich wolle. Ob am Ende meine Heulerei oder die Drohung, dass ich weg gehen und nie mehr zurückkehren würde den Ausschlag gab, kann ich nicht sagen – aber Mutter ergab sich und ich hatte ihren Segen. Meine Kündigung verlief einfacher als ich dachte. Der Backstubenleiter meinte nur, dass man Reisende nicht aufhalten sollte. Das brächte für keinen einen Vorteil.
Der Abschied von meinen Freunden machte mich etwas traurig, ich versprach aber allen, von überall Postkarten zu schicken. Dabei wusste ich genau, wie schreibfaul ich war. Ich bemerkte auch, dass einige meiner Sportkameraden etwas eifersüchtig waren. Eine Woche konnte ich noch bei meinen Eltern bleiben, dann packten Mutter und ich mein blaues Köfferchen, das nun schon seit fünf Jahren mein Begleiter war. Die längste Bahnreise, die ich nun alleine machen musste, brachte mich am 8. September 1960 zum Bremer Hauptbahnhof.

Von dort nahm ich ein Taxi zur Schlachte 6. Ich meldete mich bei einem Herrn Willman, der die Personalien führte und meine nächsten Schritte in die Wege leitete. Dann ging es zum Hotelschiff, auf dem ich die nächsten Wochen verbringen würde. Es hieß „Alibaba“ und lag auf der Weser verankert. Als Schulschiff fuhr es nirgendwo hin.
Ich arbeitete mit einem Kochsmaat, der auf ein neues Schiff wartete. Es war ein älterer Koch, den die Reederei nur behielt, weil er schon vor dem Krieg dabei war. Während des Krieges geriet er in Indien, genauer in Goa, in Internierung und heiratete eine Einheimische. Auch später blieb er dort, bis seine Frau verstarb und er wieder nach Deutschland zurückkam. Doch wegen seines Alters wollte ihn keiner mehr an Bord haben. Und so fristet er seinen Lebensabend auf der „Alibaba“. Wir waren dann wohl so etwas wie Alibabas Räuber – keine vierzig, aber wir kochten immerhin für über 30 Personen. Ich musste meine Papiere zusammen bringen sowie Arzt und Zahnarzt besuchen. Eine reine Vorsorge, damit nicht schon im nächsten Hafen ein Arztbesuch anstehen würde. Ich kaufte mir viele Koch- und Metzgerbücher, auf diesem Gebiet hatte ich großen Nachholbedarf.

Man bestellte mich ins Büro und gab mir eine Fahrkarte nach Hamburg und einen Heuerschein für die „Freienfels“, die im Hamburger Hafen lag und eine Generalüberholung bekam. Ich meldete mich bei dem wachhabenden Offizier, der mich dann an den Koch weiterleitete. Es waren einige Werftarbeiter an Bord und eine kleine Mannschaft, für die wir das Essen zubereiteten. Wir, das waren der Koch, ein Kochsmaat – von Hause aus Schlachter und meine Wenigkeit, der Kochs/Bäckerjunge.
Hätte in meiner Lehr- oder gar Gesellenzeit jemand Bäcker zu mir gesagt, wäre ich ausgeflippt. Es gab einen Unterschied zwischen Bäcker und Konditor, und es war mir wichtig, dass man dies wusste. Bäcker arbeiten hauptsächlich mit Mehl und Konditoren mit Zucker.
Ich kam dann auch gern mit meinem Spruch: Man beachte bitte die letzten zwei Buchstaben: Schust-er, Schreiner, Metzg-er, Bäck-er, Bettl-er, alles gleiche Endbuchstaben! Nun hört: Profess-or, Dokt-or, Direkt-or, Kondit-or, auch alles eins! Man merke sich den Unterschied. Doch langsam merkte ich, dass es auf einem Schiff eine viel stärkere Hierarchie gab.
Als Moses war man nur ein geduldetes Wesen. Ohne jeglichen Rechte, schon gar nicht mit der Erlaubnis, am gleichen Tisch mit einem erfahrenen Seemann verweilen zu dürfen. Aber irgendwie war das bei mir anders. Man respektierte mich, weil ich ja doch schon einen Beruf hatte. Zusätzlich erwartete man wohl, dass ich auf der Reise meine Konditorkenntnisse zum Einsatz brachte. Welcher Seemann kann widerstehen, wenn zur Kaffeezeit ein leckerer Kuchen auf dem Tisch steht. Und niemand will sich die Küchen-Gang zum Feind machen.
Einige Neckereien gab es schon, alleine deshalb, weil ich ja nicht von der Küste kam, sondern eine Landratte aus Frankfurt war. Es gab Begriffe, die ich schnell erlernen musste, zum Beispiel: Pütz (Kübel), Fulbrast (Mülleimer), Feudel (Putzlumpen), Back (Schüssel). Aber auch ein Teil vom Vorschiff, dann noch das Glasen und viele Ausdrücke mehr.
Die niederen Arbeiten wie Kartoffeln schälen, Küche putzen oder Lager-und Kühlräume sauber halten waren mir vorbehalten. Auch das Hochschleppen der gefrorenen Rinderviertel oder Schweinehälften von den unter der Küche liegenden Kühlräumen über einen steilen Aufgang in die Küche gehörte zu meinen Aufgaben- auch bei schwerem Seegang.
Doch zurzeit lagen wir immer noch an Schuppen 80 und warteten auf die Fertigstellung der Reparaturen. Es war zwei Tage vor unserem Auslaufen und wir wurden für die Reise ausgerüstet. Können Sie sich daran erinnern wie es Ihnen erging, als Sie das erste Mal bewusst auf Weihnachten und die Bescherung gewartet haben? So war mir in diesen Tagen zumute. Ich war aufgeregt und konnte es nicht erwarten.
Der Hafen von Hamburg
Für zweihundert Tage bekamen wir Proviant. Zumindest alles, was gefroren war und auch den Dosenvorrat. Frischgemüse wurde immer da gekauft, wo es welches gab. Doch das alles war nicht mein Problem.
Wir hatten den 30. Oktober und es war mein 19. Geburtstag. Für die Küche, die Stewards, den Bootsmann und den Zimmermann hatte ich schon bei der 10-Uhr-Smoke-Time eine Runde Bier ausgegeben. Vom ersten Tag an war die Küche, beziehungsweise das Deck vor der Küche, der Treffpunkt für Klatsch und Tratsch. Wie an Land beim Friseur.
Die 10-Uhr-Pause war einfach der Treffpunkt für ein Schwätzchen. Wohl, weil es in der kalten Zone heiße Kraftbrühe und in der heißen Zone kalte Getränke gab. Beliebt war das „Guiampel-Wasser“, wie die Seeleute das selbst zusammengerührte Limogetränk nannten. In meiner Mittagspause von 13 Uhr bis 15 Uhr ging ich wie immer in meine Kammer, die ich mit dem MetzgerKochsmaat teilte. Auch hatte ich mit den anderen einige Becks-Bier, welches wohl jeder Bremer Dampfer an Bord hat, getrunken. Ich war gut drauf und wollte mich ein bisschen erholen, damit ich für den Abend wieder fit war. Mich erwartete eine Überraschung, sozusagen ein Geburtstagsgeschenk von meinen Smoke-Time-Kollegen.
Die Fenster – es waren richtige viereckige, keine runden Bullaugen 54 – waren mit Vorhängen zugezogen. Es war dunkel und auch als ich den Lichtschalter einige Male hin und her drehte, blieb es so. Vor jeder Koje war noch mal ein Vorhang, den man zuzog, wenn man seine Ruhe haben wollte.Die untere Koje war meine und der Vorhang war zu. Im Dunkeln zog ich mich aus, schob den Vorhang beiseite und schwang mich in meine Koje. Das heißt – ich wollte! In dem Moment gingen der Fenstervorhang auf und das Licht an.Und jetzt sah ich: In meiner Koje lag eine nackte Frau. Und die Meute vor dem Fenster grölte! Es war kein Gesang, sondern wirklich ein Gegröle, aus dem ich das „Happy Birthday To You“ heraus hörte. Mein Schock, ich weiß nicht ob wegen der Frau oder dass ich nackt war und die halbe Besatzung vor meinem Fenster jubelte, war schnell vergangen.
Ich tat wohl das einzig Richtige und legte mich zu der mir fremden Nackten in meine Koje.
Es gab kein Entrinnen, ich musste da durch! Ich stand aber doch noch einmal auf, schloss das Fenster, zog den Vorhang zu, legte mich wieder zu meinem Geburtstagsgeschenk und ergab mich meinem Schicksal.
Man hätte mir zu meinem Geburtstag Blumen schenken können, eine Flasche Whisky, eine Freifahrtkarte für die Geisterbahn oder ganz einfach einen Gutschein für den Puff in der Herbertstraße. Aber nein, es musste hier an Bord sein, so dass die Klatschmäuler auf der ganzen Reise etwas zu erzählen hatten. Ich konzentrierte mich nun auf meinen Gast und erfuhr, dass sie Erna hieß und in der Gaststätte Labermann als Bedienung arbeitete. Bedienung ist gut.
Die nächsten zwei Stunden bediente sie mich erstklassig und der Service war perfekt, soweit ich das beurteilen konnte, denn eine so große Erfahrung hatte ich noch nicht.Nach Ernas „Bedienung“ wusste ich etwas mehr von und über Frauen. Bezahlt hatten die Jungens im Voraus und Erna war zufrieden.
Bei späteren Reisen und Liegezeiten in Hamburg traf ich Erna noch des Öfteren, aber da musste ich selbst bezahlen. Auf diesem Schiff und dieser Reise wurde noch oft vom Geburtstag gesprochen. Von Hamburg verabschiedeten wir uns und unsere Fahrt begann.
Ich stellte mir vor, dass ich wohl bis Port Said brauchte, um mir alle Gesichter zu merken. Doch da man an Bord ein Gesicht öfter am Tag sieht, merkt man es sich schneller. Zwischen dem Mannschafts-Steward und mir entstand eine gute Bord-Kameradschaft. Wir saßen häufig beisammen und erzählten uns Geschichten von unserem Landleben.
Er war ein cleverer Bursche und ich konnte bestimmt noch viel von ihm lernen. Auch hatte er schon einige Reisen auf anderen Schiffen gemacht.
Als ich das erste Mal an der Seekrankheit sterben wollte, gab er mir gute Ratschläge und Überlebens-anweisungen.
Unsere Fahrt ging nach Indien, zum Persischen Golf, nach Amerika und zurück in den Golf. Danach sollten wir eine neue Route bekommen. Lange Reisen ohne Heimathafen würden es werden, aber ich war glücklich. Endlich hatte sich mein Traum erfüllt. Ich war auf See und auf dem Wege nach Indien!

Jede Reederei hatte ein Spezialgebiet. Die „Hansa“ fuhr nach Indien und in die USA, „Hapag“ nach Ostasien und Japan und die „Hamburg-Süd“ holte Bananen aus Südamerika. Der „Norddeutsche Lloyd“ war unterwegs nach Asien und Amerika und die „Levante“-Reederei war im Mittelmeer zu Hause. Andere wiederum fuhren nach Afrika oder in die Nordmeere. Auch waren die Schiffsnamen und der Schornstein ein Kennzeichen der Reederei. Endungen de Schiffsnamen auf -fels oder -stein, auch Städte- oder deutsche Ländernamen waren charakteristisch für jede Reederei. Unser Koch war schon sehr oft in Indien und Pakistan (Hansa Spezial), er kochte geniale Currys.

Auch die Besatzung war currybesessen und heute Mittag gab es für mich sozusagen das Einstandsessen für Indienfahrer. Das Curry war nicht schlecht, aber für mich als Neuling viel zu scharf. Schnell lernte ich, dass Brot, Joghurt und Süßes die Schärfe etwas mildern. Das Curryessen war mittags – nun war es Nachmittag. Wir waren in der Biskaya angekommen und schlechtes Wetter zog auf. ……
Wie diese Reise wohl weiter ging erfährst du etwas später…einfach dran bleiben…